Nietzsche – Zur Genealogie der Moral

Meine Unterstreichungen:

Wie viel Ehrfurcht vor seinen, Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! – und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe … Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem Nichts zu verachten und sehr Viel zu ehren ist! Dagegen stelle man sich „den Feind” vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment concipirt – und hier gerade ist seine That, seine Schöpfung: er hat „den bösen Feind” concipirt, „den Bösen”, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen „Guten” ausdenkt - sich selbst! (S. 20)

Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, - ihren Schädiger straflos zu lassen. (S. 61f)

Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts. (S. 62)

Gewiss ist durchschnittlich, dass selbst bei den rechtschaffensten Personen schon eine kleine Dosis von Angriff Bosheit, Insinuation genügt, um ihnen das Blut in de Augen und die Billigkeit aus den Augen zu jagen. Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reaktive Mensch thut, thun muss, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. (S. 64)

wer von Natur „Herr” ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu „anders”, um selbst auch nur gehasst zu werden. (S. 80)

wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss. (S. 80)

Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen. (S. 80f)

der Fortgang zu Universal-Reichen ist immer auch der Fortgang zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner Überwältigung des unabhängigen Adels bahnt immer auch irgend welchem Monotheismus den Weg. (S. 84)

Selbst aber diese Störung im Kopfe war ein Problem - »ja, wie ist sie auch nur möglich? woher mag sie eigentlich gekommen sein, bei Köpfen, wie wir sie haben, wir Menschen der edlen Abkunft, des Glücks, der Wohlgerathenheit, der besten Gesellschaft, der Vornehmheit, der Tugend?” - so fragte sich Jahrhunderte lang der vornehme Grieche Angesichts jedes ihm unverständlichen Greuels und Frevels, mit dem sich Einer von seines Gleichen befleckt hatte. „Es muss ihn wohl ein Gott bethört haben”, sagte er sich endlich, den Kopf schüttelnd … Dieser Ausweg ist typisch für Griechen … Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen des Bösen - damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es vornehmer ist, die Schuld. (S. 91)

Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen. – Versteht man mich? … Hat man mich verstanden? … „Schlechterdings nicht! mein Herr!” Fangen wir also von vorne an. (S. 95f)

ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und Goethe ein Faust gewesen wäre. (S. 102)

aber wer in Worten denkt, denkt als Redner und nicht als Denker (es verräth, das er im Grunde nicht Sachen, nicht sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen, dass er eigentlich sich und seine Zuhörer denkt). (S. 114)

“Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde” – diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-Schlecht-Befindens, die physiologische, verborgen bleibt. (S. 138)

Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein” - also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: „Recht so, mein Schaf! irgend wer muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld,– du selbst bist an dir allein schuld!”, Das ist kühn genug, falsch genug: aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit Ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – verändert. (S.139)

Denn allgemein gesprochen: bei allen grossen Religionen handelte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung einer gewissen, zur Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere. (S. 142)

Trotzdem wollen wir auch hier, wie im Falle der “Erlösung”, uns gegenwärtig halten, dass damit in Grunde, wie sehr auch immer in der Pracht orientalischer Übertreibung, nur die gleiche Schätzung ausgedrückt ist, welche die des klaren, kühlen, griechisch-kühlen, aber leidenden Epikur war: das hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe des tiefsten Schlafes, Leidlosigkeit kurzum – das darf Leidenden und Gründlich-Verstimmten schon als höchstes Gut, als Werth der Werthe gelten, das muss von ihnen als positiv abgeschätzt, als das Positive selbst empfunden werden. (Nach derselben Logik des Gefühls heisst in allen pessimistischen Religionen das Nichts Gott.) (S. 146f)

gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht, welches jedenfalls leichter ist: die machinale Thätigkeit. Dass mit ihr ein leidendes Dasein in einem nicht unbeträchtlichen Grade erleichtert wird, steht ausser allem Zweifel: man nennt heute diese Tatsache, etwas unehrlich, „den Segen der Arbeit” (S. 147)

Die machinale Thätigkeit und was zu ihr gehört – wie die absolute Regularität, der pünktliche besinnungslose Gehorsam, das Ein-für-alle-Mal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubniss, ja eine Zucht zur „Unpersönlichkeit” zum Sich-selbst-Vergessen, zur „incuria sui” –: wie gründlich, wie fein hat der asketische Priester sie im Kampf mit dem Schmerz zu benutzen gewusst! (S. 147)

Die häufigste Form, in der die Freude dergestalt als Kurmittel ordinirt wird, ist die Freude des Freude-Machens (als Wohlthun, Beschenken, Erleichtern, Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen); der asketische Priester verordnet damit, dass er „Nächstenliebe” verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebenbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosirung, – des Willens zur Macht. Das Glück der „klein- sten Überlegenheit”. (S.148)

Alles, was sich heute als „guter Mensch” fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treu- herzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese „guten Menschen” sie sind allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit „über den Menschen” aus!… (S. 152)

überall das zum Lebensinhalt gemachte Missverstehen-Wollen des Leidens, dessen Umdeutung in Schuld:, Furcht- und Strafgefühle; (S. 156)

Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, giebt es auch ein neues Problem: das vom Werthe der Wahrheit. (S. 170)