Erich Fromm – Die Kunst des Liebens

Meine Unterstreichungen aus dem interessaten Buch:

[Dieses Buch] möchte den Leser überzeugen, daß jeder Versuch der Liebe fehlschlagen muß, solange man sich nicht bemüht, die eigene Gesamtpersönlichkeit zu entwickeln und damit zu einer schöpferischen Orientierung zu gelangen, und daß man in der individuellen Liebe keine Befriedigung finden wird, solange man nicht imstande ist, seinen Nächsten zu lieben und dies wirklich demütig, mutig, ehrlich und diszipliniert tut. Jeder mag sich selbst die Frage stellen, wie viele Menschen er kennt, die wirklich voll und echt zu lieben fähig sind.

S. 13

Die meisten Menschen sehen in dem Problem des Liebens in erster Linie das Problem, selbst geliebt zu werden, und nicht so sehr das Problem des Liebens, der eigenen Fähigkeit zu lieben. Demnach heißt für sie das Problem: Werde ich geliebt – wie kann ich liebenswert sein?

S. 15

Tatsache ist, daß das, was die meisten Menschen unserer Gesellschaft unter »liebenswert« verstehen, im wesentlichen nur eine Mischung von zwei Tendenzen ist: populär zu sein und Sexappeal zu haben.

S. 16

Die Menschen glauben, daß das Lieben selbst sehr einfach sei, daß es jedoch sehr schwer wäre, das richtige Objekt zum Lieben – oder zum Geliebtwerden – zu finden.

S. 16

Jedenfalls entwickelt sich das Gefühl des Verliebens gewöhnlich nur im Hinblick auf jene menschlichen Artikel, die innerhalb der eigenen Tauschmöglichkeiten liegen.

S. 18

Zwei Personen verlieben sich also ineinander, wenn sie das Gefühl haben, das geeignetste auf dem Markt verfügbare Objekt gefunden zu haben, unter Berücksichtigung der Grenzen ihres eigenen Tauschwertes.

S. 18

Tatsache ist, daß man die Intensität der Vernarrtheit, dieses gegenseitigen »Verrücktseins« nach dem anderen, als Beweis für die Intensität der Liebe hält, während es doch nicht mehr ist als der Beweis für den Grad der vorhergegangenen Einsamkeit.

S. 19

Trotz der tief-verwurzelten Sehnsucht nach Liebe hält man fast alle übrigen Dinge für wichtiger als sie: Erfolg, Prestige, Geld, Macht. Beinahe unsere ganze Energie brauchen wir dazu, um zu lernen, wie man diese Ziele erreicht, und fast nichts verwenden wir, um die Kunst des Liebens zu erlernen.

S. 21

Das Bewußtsein der menschlichen Getrenntheit ohne Wiedervereinigung durch Liebe – das ist die Quelle der Scham. Gleichzeitig ist es die Quelle von Schuld und Angst.

S. 25

In einem vorübergehenden Stadium der Ekstase verschwindet die Umwelt und damit auch das Gefühl der Getrenntheit von ihr.

S. 28

Solange diese orgiastischen Erlebnisse eine Angelegenheit gemeinsamer Handlungen eines ganzen Stammes sind, rufen sie weder Angst noch Schuldgefühl hervor. Ein derartiges Verhalten ist »richtig« und sogar eine Tugend, weil alle an ihm teilnehmen und weil es von den Medizinmännern oder Priestern nicht nur gebilligt, sondern sogar gefördert wird. Daher besteht auch kein Anlaß, sich schuldig oder beschämt zu fühlen. Etwas ganz anderes ist es jedoch, wenn die gleiche Lösung des Problems von einem Individuum in einer Kultur gewählt wird, die diese gemeinsamen Riten bereits hinter sich gelassen hat. Alkohol und Rauschgift sind die Formen, die das Individuum in einer nicht-orgiastischen Kultur wählt.

S. 29

Alle Formen der orgiastischen Vereinigung haben drei Kennzeichen: Sie sind intensiv und sogar heftig, beanspruchen die Gesamtpersönlichkeit - also Körper und Seele - und werden regelmäßig wiederholt, da ihre Wirkung schnell vergeht. Genau das Gegenteil gilt für jene Form der Gemeinsamkeit, die der Mensch der Vergangenheit wie auch der Gegenwart am häufigsten zur Lösung des Problems wählte: die Vereinigung, die auf der Konformität mit der Gruppe beruht, mit ihren Bräuchen, Gewohnheiten und Meinungen. Auch hier finden wir eine beträchtliche Entwicklung vor.

S. 29f

Form der Gemeinsamkeit, die der Mensch der Vergangenheit wie auch der Gegenwart am häufigsten zur Lösung des Problems wählte: die Vereinigung, die auf der Konformität mit der Gruppe beruht, mit ihren Bräuchen, Gewohnheiten und Meinungen. Auch hier finden wir eine beträchtliche Entwicklung vor.

S. 30

Die meisten Menschen sind sich nicht einmal ihres Bedürfnisses nach Konformität bewußt. Sie leben in der Illusion, eigenen Vorstellungen und Neigungen zu folgen, Individualisten zu sein und als Ergebnis eigenen Denkens ihre Meinung gebildet zu haben — daß ihre Vorstellungen demnach also rein zufällig denen der Majorität entsprechen. Diese Übereinstimmung nehmen sie als Beweis dafür, daß »ihre« Vorstellungen eben richtig sind. Da daneben jedoch noch das Bedürfnis besteht, eine gewisse Individualität zu empfinden, wird dieses Bedürfnis durch unbedeutende Kleinigkeiten befriedigt.

S. 31

In der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft hat die Bedeutung der Gleichheit eine Veränderung erfahren. Mit dem Begriff »Gleichheit« meint man heute die Gleichheit von Maschinen, also Menschen, die ihre Individualität eingebüßt haben. Gleichheit bedeutet heute »Einförmigkeit« und nicht »Einheit«.

S. 33

Die philosophische These der Aufklärung – l’âme n’a pas de sexe, die Seele hat kein Geschlecht – wird ganz allgemein angewendet. Die Polarität der Geschlechter verschwindet und mit ihr auch die erotische Liebe, die auf dieser Polarität beruht. Männer und Frauen werden dasselbe und nicht gleich als gegensätzliche Pole. Die zeitgenössische Gesellschaft predigt das Ideal einer nichtindividualisierten Gleichheit, weil sie menschliche Atome braucht, die sich in nichts voneinander unterscheiden und in der Zusammenballung der Masse reibungslos und ohne Schwierigkeit funktionieren, alle dem gleichen Befehl folgend, und dennoch jeder für sich in der Überzeugung, daß er nur seinen eigenen Wünschen folgt. Wie die moderne Massenproduktion die Standardisierung der Erzeugnisse verlangt, so verlangt dieser gesellschaftliche Vorgang die Standardisierung des Menschen, und sie nennt man dann »Gleichheit«.

S. 33f

Die Konformität der Herde hat nur einen Vorteil: Sie ist von Dauer und ohne jeden Krampf. Das Individuum wird im Alter von drei oder vier Jahren in das konforme Muster eingeführt und verliert danach nie mehr den Kontakt mit der Herde.

S. 34

es ist fast kein Unterschied mehr zwischen jenen, die oben auf der Leiter, und denen, die unten stehen. Sie alle führen Aufgaben aus, die durch die ganze Struktur der Organisation vorgeschrieben sind, und zwar nicht nur in einem vorgeschriebenen Tempo, sondern auch in einer vorgeschriebenen Art. Selbst die Gefühle sind vorgeschrieben: Fröhlichkeit, Toleranz, Zuverlässigkeit, Ehrgeiz und die Fähigkeit, mit jedem ohne Schwierigkeit auszukommen.

S. 35

Der Arbeiter wird ein Teil der Maschine oder der bürokratischen Organisation. Er hat aufgehört, er selbst zu sein - denn jenseits jener Vereinigung durch Anpassung findet keine Vereinigung statt.

S. 36

Es gibt eine masochistische Unterwerfung unter das Schicksal, unter Krankheit, rhythmische Musik, oder die orgiastische, durch Drogen oder Trance hervorgerufene Ekstase - in allen diesen Fällen verliert der Betroffene seine Integrität und macht sich damit selbst zum Instrument eines anderen Menschen oder Dinges; er ist damit der Aufgabe enthoben, das Problem des Lebens selbst und in Freiheit zu lösen.

S. 38

Der Sadist ist von jener Person, die sich ihm unterworfen hat, genauso abhängig wie diese von ihm; keiner kann ohne den anderen leben. Der Unterschied liegt lediglich darin, daß der Sadist befiehlt, ausnutzt, verletzt und erniedrigt, während der Masochist sich befehlen, ausnutzen, verletzen und erniedrigen läßt. Das ist in realistischem Sinne ein beträchtlicher Unterschied; in einem tieferen Sinne ist der Unterschied jedoch nicht so groß wie das, was beide gemeinsam haben: Vereinigung ohne Unabhängigkeit und Integrität. Wenn man dies begreift, ist es auch nicht überraschend festzustellen, daß eine Person gewöhnlich sowohl auf sadistische als auch auf masochistische Art reagiert, im allgemeinen allerdings gegenüber verschiedenen Objekten. Hitler reagierte Menschen gegenüber in erster Linie auf sadistische, seinem Schicksal, der Geschichte und den »höheren Mächten« der Natur gegenüber jedoch auf masochistische Weise.

S. 39

Bei den Affekten unterscheidet er zwischen aktiven und passiven, zwischen »Aktionen« und »Passionen«. Wenn der Mensch einem aktiven Affekt gemäß handelt, ist er frei, ist er der Herr des Affektes; wenn er von einem passiven Affekt motiviert ist, ist er getrieben, das Objekt von Motiven, die ihm selbst gar nicht bewußt sind. So kommt Spinoza schließlich zu der Feststellung, daß Tugend und sich seiner selbst mächtig sein ein und dasselbe sind. Neid, Eifersucht, Ehrgeiz und jede Art von Gier sind Leidenschaften, Passionen; die Liebe dagegen ist eine Aktion, Ausübung einer menschlichen Macht, die nur in Freiheit ausgeübt werden kann und niemals das Ergebnis eines Zwanges ist. Die Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Ganz allgemein kann man sie mit der Feststellung umschreiben, daß die Liebe in erster Linie ein Geben und kein Empfangen ist.

S. 41

Menschen, deren Charakterstruktur wesentlich unproduktiv ist, haben das Gefühl, daß man ihnen etwas wegnimmt. Die meisten Individuen dieses Typs weigern sich daher, etwas zu geben. Manche machen dagegen aus dem Geben eine Tugend im Sinne des Opferns. Sie glauben, daß man geben sollte, gerade weil es so schmerzlich ist; die Tugend des Gebens liegt für sie gerade in der Bereitschaft zum Opfern. Für sie bedeutet die Norm, daß Geben besser ist als Nehmen nichts anderes als die Tat-ache, daß es besser ist, einen Verlust zu erleiden, als Freude zu erleben.

S. 42

Für den schöpferischen Charakter hat das Geben eine völlig andere Bedeutung. Geben ist für ihn der höchste Ausdruck von Kraft.

S. 42

Geben bringt mehr Freude als Empfangen, nicht weil es ein Opfer ist, sondern weil in der Handlung des Gebens der Ausdruck meiner Lebenskraft liegt.

S. 42

In der Sphäre der materiellen Dinge ist Geben Reichtum. Nicht der, der hat, ist reich, sondern der, der viel gibt. Der Geizige, der Angst vor jedem Verlust hat – ist psychologisch gesagt – ein armer und armseliger Mensch, ungeachtet der Tatsache, wieviel er besitzt.

S. 43

Was gibt eigentlich ein Mensch dem anderen? Er gibt von sich selbst, von dem Kostbarsten, was er besitzt, von seinem Leben. Das bedeutet nicht notwendigerweise, daß er sein Leben anderen zum Opfer bringt, sondern daß er von dem gibt, was in ihm lebendig ist. Er gibt von seiner Freude, von seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen, von seinem Humor und von seiner Traurigkeit – kurz, von allem, was in ihm lebendig ist. Und dadurch, daß er von seinem Leben gibt, bereichert er den anderen, steigert er das Lebensgefühl des anderen in der Steigerung des eigenen Lebensgefühls.

S. 44

Jona fühlte gegenüber den Einwohnern Ninives keine Verantwortlichkeit. Wie Kain könnte er die Frage stellen: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Der liebende Mensch antwortet. Das Leben seines Bruders ist nichts, was den Bruder allein anginge, sondern etwas, das auch ihn angeht. Er fühlt sich verantwortlich für seine Mitmenschen, wie er sich auch verantwortlich für sich selbst fühlt.

S. 48

Einen Menschen zu respektieren, ist nur möglich, wenn man ihn kennt, wenn man von ihm weiß; Fürsorge und Verantwortlichkeit würden blind sein, wären sie nicht vom Wissen geleitet. Das Wissen wäre leer, wäre es nicht von der Besorgtheit ausgelöst. Es gibt viele Schichten des Wissens; das Wissen, das ein Aspekt der Liebe ist, gehört zu jenem, das nicht am Rande stehenbleibt, sondern zum Kern vordringt.

S. 49

Je weiter wir in die Tiefe unseres Seins oder in das eines anderen vordringen, desto mehr entzieht sich uns das Ziel unseres Wissens.

S. 50

[Isaac Babel] zitiert einen Offizierskameraden aus dem russischen Bürgerkrieg, der gerade seinen früheren Herrn zu Tode getrampelt hat und sagt: »Mit einem Schuß – ich will es mal so ausdrücken –, mit einem Schuß hat man den Kerl nur ausgelöscht… Mit einem Schuß kommt man nie an seine Seele heran, dahin, wo auch er ein Mensch ist und wo seine Seele steckt. Aber ich nehme auf mich keine Rücksicht, und ich habe schon mehr als einmal einen Feind zu Tode getrampelt, was länger als eine Stunde dauerte. Weißt du – ich will wissen, was das Leben wirklich ist, was dieses Leben ist, dem wir dauernd begegnen.«

S. 51

Das Wissen in Gedanken, das heißt das psychologische Wissen, ist eine Bedingung für das vollständige Wissen in dem Akt der Liebe. Ich muß den anderen und mich selbst objektiv kennen, um in der Lage zu sein, seine Realität zu sehen oder die Illusionen, das irrational verzerrte Bild, das ich von ihm habe, zu überwinden.

S. 52

In der konventionellen westlichen Theologie wird der Versuch gemacht, Gott gedanklich zu erkennen und Feststellungen über Gott zu treffen. Im Mystizismus, der – wie ich später zu erklären versuche – die radikale Konsequenz des Monotheismus ist, wurde der Versuch, Gott gedanklich zu erkennen, aufgegeben und durch das Erlebnis der Vereinigung mit Gott ersetzt, in der kein Platz ist und auch nicht mehr die Notwendigkeit besteht, etwas über Gott zu wissen.

S. 53

Das psychologische Wissen wird damit zu einem Ersatz für das vollständige Wissen im Akt der Liebe, statt ein Schritt in diese Richtung zu sein.

S. 53

Das Problem der mann-weiblichen Polarität führt zu der weiteren Diskussion von Liebe und Sexualität. Ich habe vorhin schon von Freuds Irrtum gesprochen, daß er in der Liebe ausschließlich die Äußerung – oder eine Sublimierung – des Sexualinstinkts sah und nicht erkannte, daß das sexuelle Verlangen eine Äußerung des Verlangens nach Liebe und Vereinigung ist.

S. 57

Die Bedingungslosigkeit der Mutterliebe hat jedoch auch eine negative Seite. Sie braucht nicht nur nicht verdient zu werden – sie kann auch nicht erworben werden. Wenn sie vorhanden ist, ist es ein Segen; fehlt sie jedoch, ist das Leben kahl und leer – und ich kann nichts tun, um sie hervorzurufen.

S. 62

Ferner hinterläßt »verdiente« Liebe leicht das bittere Gefühl, daß man nicht um seiner selbst willen geliebt wird, sondern daß man nur geliebt wird, weil man dem anderen Freude gemacht hat – daß man also im letzten nicht geliebt, sondern nur gebraucht wird.

S. 64

Die positive Seite ist gleichermaßen wichtig. Da diese Liebe Bedingungen stellt, kann ich etwas tun, um sie zu erwerben; die Vaterliebe entzieht sich im Gegensatz zur Mutterliebe nicht meiner Kontrolle und Anstrengung.

S. 66

Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, liebe ich alle Menschen, liebe ich die ganze Welt und liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem anderen sagen kann: »Ich liebe dich«, muß ich auch sagen können: »Ich liebe in dir alle Menschen, ich liebe in dir die Welt, ich liebe in dir auch mich selbst.«

S. 70

Dieses Verlangen nach Hilfe bedeutet nicht, daß der eine hilflos, der andere stark ist. Hilflosigkeit ist ein vorübergehender Zustand; die Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen und zu gehen, ist dagegen der übliche und dauerhafte Zustand.

S. 71f

Die meisten Mütter sind in der Lage, »Milch« zu geben, aber nur eine Minderheit kann daneben auch noch »Honig« geben. Um Honig geben zu können, muß man nicht nur eine »gute Mutter«, sondern daneben noch ein glücklicher Mensch sein — und dieses Ziel wird nur von wenigen erreicht.

S. 74

In der erotischen Liebe vereinigen sich zwei Menschen, die bisher getrennt waren; in der Mutterliebe dagegen werden zwei Menschen, die vorher eins waren, getrennt. Die Mutterliebe muß die Trennung vom Kind nicht nur dulden, sondern sie sogar wünschen und fördern.

S. 76

Da das sexuelle Verlangen in der Ansicht der meisten Menschen mit der Liebe verbunden ist, kommen sie sehr leicht zu dem irreführenden Schluß, daß man sich liebt, wenn man sich körperlich besitzen will.

S. 79

Man findet oft zwei Menschen, die sich gegenseitig lieben, für andere jedoch keinerlei Liebe empfinden. Ihre Liebe ist in Wirklichkeit ein gemeinsamer Egoismus; es sind Menschen, die sich selbst nur mit dem Partner identifizieren und das Problem der Getrenntheit dadurch lösen, daß sie das einzelne Individuum in zwei Individuen aufteilen. Sie glauben die Einsamkeit überwunden zu haben; da sie sich von der übrigen Menschheit jedoch zurückgezogen haben, bleiben sie auch untereinander getrennt und einander entfremdet.

S. 80

Wenn ein Individuum in der Lage ist, schöpferisch zu lieben, liebt es sich selbst auch; wenn es jedoch nur den anderen lieben kann, ist es unfähig zu lieben.

S. 86

Es stimmt, daß selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben; sie sind jedoch genauso unfähig, sich selbst zu lieben.

S. 87

Der »selbstlose« Mensch »will nichts für sich«; er lebt nur für andere« und ist stolz darauf, sich selbst nicht wichtig zu nehmen. Er ist erstaunt, wenn er feststellt, daß er trotz seiner Selbstlosigkeit unglücklich ist und daß sein Verhältnis zu seinen Nächsten unbefriedigend ist.

S. 87f

Zitat Meister Eckeharts: »Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft lieb gewonnen, - wenn du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst, in einem Menschen alle Menschen; und dieser Mensch ist Gott und Mensch. So steht es recht mit einem solchen Menschen, der sich selbst lieb hat und alle Menschen so lieb wie sich selbst, und mit dem ist es gar recht bestellt. «

S. 89

In allen theistischen Religionen, seien sie nun polytheistisch oder monotheistisch, verkörpert Gott den höchsten Wert, das höchste Gut. Daher hängt die besondere Bedeutung Gottes immer von dem ab, was dem Menschen als das höchste Gut erscheint. Die Analyse des Gottesbegriffes muß daher bei der Analyse der charakterlichen Struktur des Menschen beginnen, der Gott anbetet.

S. 90

Selbst im Protestantismus ist die Gestalt der Mutter nicht völlig ausgelöscht, wenn sie auch im verborgenen bleibt. Luther stellte als bedeutendsten Leitsatz die These auf, daß nichts, was der Mensch täte, die Liebe Gottes hervorrufen könne. Gottes Liebe sei Gnade, und die religiöse Haltung liege darin, Vertrauen in diese Gnade zu haben, sich selbst klein und hilfsbedürftig zu machen. Keine gute Tat könne Gott beeinflussen – oder dafür sorgen, daß Gott uns liebe, wie die katholischen Lehren postulieren. So trägt die lutherische Lehre – trotz ihres patriarchalischen Charakters – ein verstecktes matriarchalisches Element in sich.

S. 93

Der wirklich religiöse Mensch bittet, wenn er dem Wesen der monotheistischen Idee folgt, nicht um irgend etwas und erwartet nichts von Gott; er liebt Gott auch nicht so, wie ein Kind seinen Vater oder seine Mutter liebt. Er hat vielmehr jene Demut erreicht, in der er weiß, daß er nichts von Gott weiß. »Gott« wird für ihn ein Symbol, in welchem der Mensch in einem früheren Stadium seiner Evolution das Höchste ausgedrückt hat, was er erstrebt: Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit.

S. 98

Alle theistischen, auch die nicht-»theologisch«-mystischen Systeme, setzen eine spirituelle Realität voraus, die den Menschen transzendiert und den geistigen Kräften des Menschen sowie seinem Streben nach Erlösung und innerer Geburt Bedeutung und Wert verleiht. Im nicht-theistischen System gibt es keine spirituelle Realität, die außerhalb des Menschen liegt und ihn transzendiert. Die Sphäre der Liebe, der Vernunft und der Gerechtigkeit besteht als Realität nur, weil und insofern der Mensch fähig gewesen ist, diese in ihm liegenden Kräfte im Prozeß seiner Evolution zu entwickeln. In dieser Sicht hat das Leben keinen »Sinn«, außer jenem allein, den der Mensch ihm selbst gibt.

S. 99

»Wissen, daß man nichts weiß, ist das Höchste; Nichtwissen für Wissen achten, ist Leiden.« (Laotse)

S. 102

Laotse sagt dazu: »Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn. Der Name, den man nennen kann ist nicht der ewige Name.«

S. 102

In der Vedanta gilt die Vorstellung von einem allwissenden und allmächtigen Gott als höchste Form von Unwissenheit.

S. 104

Für Meister Eckehart ist »das Göttliche ein Verneinen des Verneinens und ein Verleugnen des Verleugnens… Alle Kreaturen tragen eine Verneinung in sich, die eine verneint, die andere zu sein.«

S. 105

Aber trotzdem fühlte sich derjenige, der an Gott glaubte – wenn er auch nicht Gott lebte – jenem überlegen, der Gott zwar lebte, nicht aber an ihn »glaubte«.

S. 108

Aus diesen Überlegungen folgt, daß die Liebe zu Gott von der Liebe zu den Eltern nicht getrennt werden kann. Wenn ein Mensch nicht über die inzestuöse Bindung an Mutter, Klan oder Nation hinauskommt, wenn er in der kindlichen Abhängigkeit von einem strafenden und belohnenden Vater oder von irgendeiner anderen Autorität verbleibt, kann er auch keine reifere Liebe zu Gott entwickeln; dann ist sein Glaube der einer früheren Phase der Religion, in der Gott als eine allbeschützende Mutter oder ein strafend-belohnender Vater erlebt wurde.

S. 110

Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die reibungslos und in großer Zahl zusammenarbeiten, die mehr und mehr konsumieren wollen, deren Geschmack jedoch standardisiert, leicht zu beeinflussen und vorauszusagen ist. Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die sich frei und unabhängig fühlen und glauben, keiner Autorität, keinem Prinzip und keinem Gewissen unterworfen zu sein – die aber dennoch bereit sind, Befehle auszuführen, das zu tun, was man von ihnen erwartet, sich reibungslos in die gesellschaftliche Maschine einfügen, sich ohne Gewalt leiten lassen, sich ohne Führer führen und ohne Ziel dirigieren lassen – mit der einen Ausnahme: nie untätig zu sein, zu funktionieren und weiterzustreben.

S. 116

In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg ging ihr jenes Konzept von der Liebe voraus, nach dem die gegenseitige sexuelle Befriedigung die Grundlage für befriedigende Liebesbeziehungen und besonders für eine glückliche Ehe sein sollte. Man glaubte, den Grund für die vielen unglücklichen Ehen darin gefunden zu haben, daß die Ehepartner sich sexuell nicht richtig »anpassen« konn-ten; den Grund für diesen Fehler sah man in der Unwissenheit hinsichtlich des »richtigen« sexuellen Verhaltens, also in der fehlerhaften sexuellen Technik des einen Partners oder beider Partner. Um diesen Fehler zu »besei-tigen« und jenen unglücklichen Paaren zu helfen, die sich nicht lieben konnten, gaben viele Bücher Instruktionen und Ratschläge über das richtige sexuelle Verhalten und versprachen mehr oder weniger deutlich, daß nun Glück und Liebe von selbst folgen würden. Die zugrunde liegende Idee bestand darin, daß die Liebe als Kind des sexuellen Vergnügens galt und daß man glaubte, zwei Menschen, die gelernt hätten, sich gegenseitig sexuell zu befriedigen, würden sich dann auch lieben. Es paßte genau in die allgemeine Illusion, die richtige Technik für die Lösung nicht nur der Probleme der industriellen Produktion, sondern auch der menschlichen Probleme zu halten. Man ignorierte die Tatsache, daß gerade das Gegenteil dieser zugrunde liegenden Annahme wahr ist.

S. 119f

Die offensichtlichen klinischen Tatsachen zeigen je-doch, daß Männer - und Frauen -, die ihr Leben lang das sexuelle Verlangen ungehemmt befriedigten, keineswegs dadurch glücklich werden, sondern sehr oft an ernsten neurotischen Konflikten und Symptomen leiden.
> S. 124

Diese Männer fühlen sich immer noch als Kinder; sie brauchen den mütterlichen Schutz, die mütterliche Liebe, Wärme, Fürsorge und Bewunderung. Sie brauchen die bedingungslose Liebe der Mutter – eine Liebe, die aus keinem anderen Grunde als dem gegeben wird, daß sie sie brauchen, daß sie Kinder ihrer Mutter sind, daß sie hilflos sind. Solche Menschen sind oft sehr herzlich und charmant, wenn sie versuchen, eine Frau dazu zu bringen, sie zu lieben: und auch wenn es ihnen geglückt ist, bleiben sie es noch. Ihre Beziehung zur Frau (wie in Wirklichkeit zu allen Menschen) bleibt jedoch flüchtig und ohne Verantwortung.

S. 125f

Diese Männer verwechseln gewöhnlich ihr charmantes Verhalten und ihren Wunsch, Freude zu bereiten, mit wahrer Liebe und kommen dann zu dem Schluß, daß sie ungerecht behandelt werden. Sie bilden sich ein, großartige Liebhaber zu sein, und beklagen sich bitterlich über die Unzufriedenheit ihrer Partner.

S. 126

Es stimmt, daß auch der Durchschnittsmensch in älteren Kulturen zu Gott als dem helfenden Vater oder der helfenden Mutter aufsah. Gleichzeitig nahm er Gott jedoch ernst in dem Sinne, daß es das Ziel seines Lebens war, Gottes Grundsätzen entsprechend zu leben. Heute ist von diesen Bemühungen nichts mehr vorhanden. Das tägliche Leben wird streng von allen religiösen Werten getrennt. Es ist allein dem Streben nach materieller Bequemlichkeit und dem Erfolg auf dem Persönlichkeitsmarkt gewidmet.

S. 136

Der Mensch echt religiöser Kulturen könnte vielleicht mit einem Kind von acht Jahren verglichen werden, das einen Vater als Retter braucht, das jedoch angefangen hat, die Lehren und Prinzipien des Vaters in sein Leben zu übernehmen. Der zeitgenössische Mensch ähnelt jedoch einem Kind von drei Jahren, das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, und sonst zufrieden ist, wenn es spielen

S. 137

Gleich einem modernen Psychiater, der dem Angestellten empfiehlt, glücklich zu sein, damit er anziehender auf die Kundschaft wirke, empfehlen einige Geistliche die Liebe zu Gott, um erfolgreicher zu sein. »Mache Gott zu deinem Partner« bedeutet, Gott zum Geschäftspartner zu machen, nicht aber mit Ihm in Liebe. Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit eins zu werden. Ganz wie die Nächstenliebe, die durch unpersönliche Fairneß ersetzt wurde, ist Gott zu einem in unerreichbarer Ferne thronenden Generaldirektor der Universum G.m.b.H. ge-worden; man weiß, daß er existiert und daß er den Betrieb leitet (obgleich dieser wahrscheinlich auch allein funktionieren würde), man sieht ihn auch nie - aber man erkennt seine Leitung an und »tut seine Pflicht«.

S. 139

Man mag denken, daß es für den modernen Menschen nichts Leichteres gibt, als Disziplin zu lernen; verbringt er nicht täglich acht Stunden auf disziplinierte Weise bei seiner Arbeit? Tatsache ist jedoch, daß der heutige Mensch außerordentlich wenig Selbstdisziplin außerhalb seiner Arbeit zeigt.Wenn er nicht arbeitet, will er träge sein und nichts tun - will er, um ein netteres Wort zu gebrauchen, »sich entspannen«.

S. 142

Außerdem ist er in seinem Kampf gegen die Autorität gegenüber jeder Disziplin mißtrauisch geworden, sei sie ihm nun durch eine irrationale Autorität aufgezwungen worden oder als rationale Disziplin selbst-auferlegt. Ohne Disziplin bleibt das Leben jedoch zersplittert, chaotisch und ohne jede Konzentration.

S. 143

(Das Rauchen ist ein Symptom für diesen Mangel an Konzentration; es beschäftigt Hand, Mund, Auge und Nase.)

S. 143

Was für die Maschinen gut ist, muß auch für den Menschen gut sein – das scheint logisch. Der moderne Mensch glaubt, irgend etwas – nämlich Zeit – zu verlieren, wenn er die Dinge nicht schnell erledigt; und doch weiß er nicht, was er mit der dadurch gewonnenen Zeit anfangen soll – außer daß er sie totschlägt.

S. 144

Es gehört zu den bedauerlichen Aspekten unseres westlichen Konzeptes der Disziplin (wie übrigens jeder anderen Tugend), daß man glaubt, sie müsse schmerzhaft oder unangenehm sein und daß sie nur dann etwas »taugt«, wenn es so ist. Der Osten hat schon seit langem erkannt, daß das, was für den Menschen – für seinen Körper wie für seine Seele – gut ist, auch angenehm sein muß, selbst wenn zu Anfang ein gewisser Widerstand überwunden werden muß.

S. 146

Neben diesen Übungen muß man lernen, bei allem, was man tut, konzentriert zu sein: beim Anhören von Musik, beim Lesen eines Buches, bei der Unterhaltung mit einem anderen oder beim Betrachten eines Bildes. Wenn man konzentriert ist, spielt es fast keine Rolle, was man tut; die wichtigsten wie auch die unwichtigen Dinge bekommen eine neue Dimension der Wirklichkeit, weil man ganz geöffnet ist. Um zu lernen, sich zu konzentrieren, muß man jede banale Unterhaltung weitmöglichst vermeiden, das heißt jede Unterhaltung, die eigentlich gar keine ist.

S. 147

Ich meine auch die Gesellschaft von Menschen, die innerlich unlebendig sind, von Menschen, deren Gedanken und Gespräche belanglos sind, die nur schwatzen, statt zu reden, und die nicht nachdenken, sondern nur klischierte Meinungen von sich geben. Es ist jedoch nicht immer möglich und manchmal auch nicht notwendig, die Gesellschaft solcher Menschen zu meiden. Wenn man nicht in der erwarteten Weise – also mit Klischees und Belanglosigkeiten –, sondern unmittelbar und menschlich reagiert, wird man häufig finden, daß solche Menschen ihr Verhalten plötzlich ändern, und zwar dank jenes Überraschungsmomentes, das der Schock des Unerwarteten bei ihnen auslöst, und ihrer eigenen Sehnsucht, aus dem Bereich der Fiktion und Banalität zur Realität vorzustoßen.

S. 148

Wie viele Ehemänner meinen, ihre Frauen seien tyrannisch, weil sie durch ihre eigene infantile Bindung an die Mutter jede Forderung der Frau als Einschränkung ihrer »Freiheit« auslegen. Wie viele Frauen halten ihre Männer für untüchtig oder schwach, weil diese nicht jener phantastischen Vorstellung von einem strahlenden Ritter entsprechen. die sie sich als Kind gemacht haben!

S. 155

Demut und Objektivität lassen sich ebensowenig auf gewisse Sphären des Lebens beschränken wie die Liebe. Ich kann meiner Familie gegenüber nicht wahrhaft objektiv sein, wenn ich es dem Fremden gegenüber nicht sein kann - und umgekehrt.

S. 156

Rationaler Glaube ist in erster Linie nicht der Glaube an etwas, sondern die Gewißheit und Festigkeit, die der auf dem eigenen echten Erlebnis gegründeten Überzeugung eigen ist. Glaube ist ein Charakterzug der Gesamtpersönlichkeit, und nicht etwas, was sich auf bestimmte, als wahr hingenommene Gedankeninhalte bezieht.

S. 157

Während irrationaler Glaube bedeutet, etwas deswegen als wahr anzunehmen, weil eine Autorität oder die Mehrheit es behauptet, entspringt rationaler Glaube aus der unabhängigen Überzeugung, die auf eigenem schöpferischen Beobachten und Denken beruht – trotz der Meinung der Mehrheit.

S. 158

Nur der Mensch, der Glaube in sich selbst hat, ist fähig, anderen treu zu sein, weil allein er sicher sein kann, daß er in der Zukunft der gleiche sein wird wie heute und daß er daher auch später genauso fühlen und handeln wird, wie er es heute verspricht. Glaube zu sich selbst ist eine Vorbedingung für unsere Fähigkeit, zu versprechen, und wenn der Mensch, wie Nietzsche sagt, durch seine Fähigkeit zu versprechen definiert werden kann, ist der Glaube eine Bedingung der menschlichen Existenz. Was die Liebe anlangt, ist der Glaube in die eigene Liebe, in ihre Fähigkeit, bei anderen Liebe hervorzurufen, und in ihre Zuverlässigkeit eine ihrer Grundbedingungen.

S. 160

In einen Roboter braucht man keinen Glauben zu haben, da in ihm kein Leben ist, das sich entfaltet.

S. 161

Es gibt keinen Glauben an die Macht. Es gibt nur die Unterwerfung unter sie oder – auf seiten derer, die sie haben – den Wunsch, sie zu behalten. Während Macht für viele Menschen das realste aller Dinge zu sein scheint, beweist die Geschichte, daß sie die unsicherste und vorübergehendste aller menschlichen Errungenschaften ist. Auf Grund der Tatsache, daß Glaube und Macht einander ausschließen, werden alle religiösen und politischen Systeme, die ursprünglich auf rationalem Glauben errichtet wurden, korrupt und verlieren schließlich die innere Stärke, wenn sie sich auf die Macht verlassen oder sich mit ihr verbünden.

S. 162

Das Verständnis der Liebe muß jedoch mit dem Erkennen des Unterschiedes zwischen Fairneß und Liebe beginnen.

S. 167

Es ist eine gefährliche Ausrede - des »radikalen« Denkens sowohl wie des Durchschnittsmenschen –, seinem existentiellen Problem im »hier und jetzt« damit auszuweichen, daß die gesellschaftlichen Umstände als der einzig determinierende Faktor angesehen werden.

S. 169