Simone Weil – Schwerkraft und Gnade
Meine Unterstreichungen:
Eine tugendhafte Handlung kann erniedrigen, wenn auf dem gleichen Niveau keine Energie zur Verfügung stet. (S. 8)
Selbst in meinen schlimmsten Augenblicken würde ich eine griechische Statue oder ein Fresko von Giotto nicht zerstören. Warum also anderes? Warum zum Beispiel einen Augenblick im Leben eines Menschen, der ein glücklicher Augenblick sein könnte? (S. 11)
Jede Art von Belohnung setzt unsere Energie auf eine niedrigere Stufe herab. (S. 15)
Wenn man Gott liebt in dem Gedanken, dass es ihn nicht gibt, dann wir er sein Dasein offenbaren. (S. 23)
Der Gedanke an den Tod verlangt nach einem Gegengewicht, und dieses Gegengewicht — abgesehen von der Gnade — kann nur eine Lüge sein. (S. 23)
Opfer: man kann keine andere Gabe darbringen als das Ich, und alles, was man Opfer nennt, ist nur ein Etikett auf etwas, das man anstelle des Ich darbringt. (S. 31)
Wer an Gott glaubt, steht in Gefahr, einer noch gröberen Täuschung zu erliegen, dass er nämlich der Gnade zuschreibe, was seinem Wesen nach eine bloß mechanische Wirkung ist. (S. 36)
Wir sind ein grundloses Fass, solange wir noch nicht begriffen haben, dass wir einen Grund haben. (S. 39)
Eine sehr schöne Frau, die ihr Bild im Spiegel betrachtet, kann leicht des Glaubens sein, sie selber sei »das«, was sie vor sich sieht. Eine hässliche Frau weiß, dass sie »das« nicht ist. (S. 39)
Gott konnte nur erschaffen, indem er sich verbarg. Anders gäbe es nur ihn allein. (S. 45)
Mann muss sich entwurzeln. Den Baum fällen und ein Kreuz daraus zimmern und dieses dann alle Tage tragen. (S. 46)
Selbst wenn man wie Gott sein könnte, es wäre dennoch besser, ein Unrat zu sein, der Gott gehorcht. (S. 47)
Denn es gibt keine Ablösung ohne Schmerz. (S. 60)
alles, was die Zeit bedroht, sondert Lüge ab, um nicht zu sterben, und zwar je mehr, je größer die Todesgefahr ist. Deshalb gibt es keine Liebe zur Wahrheit ohne vorbehaltlose Bereitschaft zum Tode. Das Kreuz Christi ist die einzige Pforte zur Erkenntnis. (S. 67)
Jede Sünde, die ich begangen, soll mir als eine Gunst Gottes gelten. Denn es ist eine Gunst, dass die wesenhafte Unvollkommenheit, die in meinem Grunde verborgen ist, mir an dem und dem Tage, zu der und der Stunde, unter den und den Umständen teilweise offenbar geworden ist. Ich begehre, ich flehe, dass meine Unvollkommenheit meinen Augen gänzlich offenbar werden möge, soweit der menschliche Geist dieses Anblicks fähig ist. Nicht darum, dass ich von ihr geheilt werde, sondern dass ich, selbst wenn ich nicht von ihr geheilt werden sollte, in der Wahrheit sei. (S. 67)
Darum fliehen wir die innere Leere, weil Gott sich in sie einschleichen könnte. (S. 68)
In Ermangelung von Götzen muss man sich oft, jeden oder doch fast jeden Tag, ins Leere abmühen. Dazu aber bedarf man des übernatürlichen Brotes. Der Götzendienst ist also eine Lebensnotwendigkeit in der Hölle. Es ist unvermeidlich, selbst bei den Besten, dass er Einsicht und Güte eng beschränke. (S. 69)
Unter den menschlichen Wesen erkennt man nur denjenigen eine volle Existenz zu, die man liebt. (S. 72)
Hat man aus Ungerechtigkeit gesündigt, so genügt es nicht, gerecht zu leiden, man muss die Ungerechtigkeit erleiden. (S. 84)
Die Sünde wider den Geist besteht darin, dass man etwas als gut kennt und es eben als ein Gutes hasst. (S. 85)
Man glaubt, das Denken sei unverbindlich, aber nichts außer dem Denken schlägt uns in Bande, und wer in Gedanken zügellos ist, ist jeder Zügellosigkeit fähig. (S. 88)
Ich soll mein Leiden nicht deshalb lieben, weil es nützlich ist, sondern weil es ist. (S. 91)
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlas- sen?”
Hierin liegt der wahre Beweis von der Göttlichkeit des Christentums. (S. 99)
Wir sind das, was von Gott am weitesten entfernt ist, an jener äußersten Grenze, von der aus es noch nicht völlig unmöglich ist, zu ihm zurückzukehren. In unserem Sein ist Gott zerrissen. Wir sind die Kreuzigung Gottes. Gottes Liebe zu uns ist Passion. Wie könnte das Gute das Böse lieben, ohne zu leiden? Und auch das Böse leidet, wenn es das Gute liebt. Die wechselseitige Liebe zwischen Gott und Mensch ist Leiden. (S. 101)
Jedes Streben nach Lust ist Streben nach einem künstlichen Paradies, einem Rausch, einem Zuwachs. Die Lust aber gibt uns nichts, außer der Erfahrung ihrer Eitelkeit. (S. 105)
Nicht richten. Wie der Vater im Himmel, der nicht richtet: durch ihn richten die Wesen sich selbst. Alle Wesen zu sich kommen lassen und sich selbst richten lassen. Ei- ne Waage sein. (S. 105)
Die Vorschriften sind nicht um ihrer Ausübung willen gegeben, sondern ihre Ausübung ist vorgeschrieben, damit die Vorschriften einsichtig werden. Sie sind Tonleitern. Man spielt Bach nicht, ohne Tonleitern geübt zu haben. Aber man übt die Tonleiter nicht um der Tonleiter willen. (S. 135)
Die transzendente Astrologie und Alchimie sind die Betrachtung der ewigen Wahrheiten in den Symbolen, die uns die Gestirne und die Verbindungen der Substanzen bieten. Astronomie und Chemie sind nur ihre Verfallserscheinungen. Astrologie und Alchimie als magische Praktiken sind noch niedrigere Verfallserscheinungen. Die Fülle der Aufmerksamkeit wird nur in der religiösen Aufmerksamkeit erreicht. (S. 145)
Die andern. Jedes menschliche Wesen (Bild unserer selbst) als ein Gefängnis wahrnehmen, in dem ein Gefangener wohnt, mit dem ganzen All ringsum. (S. 146)
Man liest, aber man wird auch von andern gelesen. Interferenzen dieser Lesarten. Jemanden zwingen, sich selbst zu lesen, wie man ihn liest (Sklaverei). Die anderen zwingen, einen zu lesen, wie man sich selbst liest (Eroberung). Mechanismus. Meistens ein Gespräch zwischen Leuten, die taub sind. (S. 146)
Man setzt beiseite, ohne es zu wissen; und eben darin liegt die Gefahr. Oder, was noch schlimmer ist, man setzt durch einen Willensakt beiseite, aber durch einen Willensakt, den man sich selbst verhehlt. Und nachher weiß man nicht mehr, dass man beiseitegesetzt hat. Man will es nicht wissen, und weil man es nicht wissen will, gelangt man zuletzt dahin, dass man es nicht wissen kann. Diese Fähigkeit des Beiseitesetzens erlaubt jegliches Verbrechen. Sie liefert den Schlüssel zur schrankenlosen Willkür für alles, was über den Bereich hinausliegt, innerhalb dessen Erziehung und Dressur feste Verbindungen hergestellt haben. Hieraus erklärt sich, dass die Menschen sich häufig so widerspruchsvoll verhalten, namentlich jedes Mal dann, wenn das Soziale, die Kollektivgefühle (Krieg, Völker- und Klassenhass, Patriotismus einer Partei, einer Kirche usw.) mit ins Spiel kommen. Alles, was das Prestige der gemeinschaftlichen Sache deckt, wird an eine andere Stelle als das Übrige gesetzt und aus gewissen Beziehungen her- ausgelöst. (S. 149)
Seinen Nächsten lieben wie sich selbst, heißt nicht, alle Wesen auf gleiche Weise lieben, denn ich liebe auch nicht alle Daseinsweisen meiner selbst auf gleiche Weise. Heißt auch nicht, sie niemals leiden machen, denn ich weigere mich nicht, mich selbst leiden zu machen. Sondern heißt: zu einem jeden in dem Verhältnis stehen, in welchem eine Weise, das Universum zu denken, zu einer anderen Weise, das Universum zu denken, steht, und nicht in dem Verhältnis, in welchem sie zu einem Teil des Universums steht. (S. 153)
Ein Geschehnis in der Welt nicht hinnehmen, heißt wünschen, dass die Welt nicht sei. (S. 153)
Wünschen in den Volksmärchen: die Wünsche sind deshalb gefährlich, weil sie erhört werden. (S. 154)
Das Missverhältnis zwischen der Einbildung und dem Sachverhalt ertragen. »Ich leide.« Das ist besser als: »Diese Landschaft ist hässlich.« (S. 156)
Die ganze Kuh ist ein Milchspender, obgleich man die Milch nur aus dem Euter zieht. Ebenso bringt die Welt Heiligkeit hervor. (S. 156)
Die Schönheit verführt das Fleisch, um die Erlaubnis zu erhalten, in die Seele einzudringen. (S. 160)
Geld, Mechanisierung, Algebra. Die drei Ungeheuer der gegenwärtigen Zivilisation. Völlige Analogie. (S. 164)
Algebra und geld sind wesensmäßig nivellierende Faktoren, die erste geistig, die andere tatsächlich. (S. 165)
Der Kapitalismus hat die Befreiung der menschlichen Kollektivität von der Natur verwirklicht. Aber in Bezug auf den Einzelnen hat diese Kollektivität ihrerseits nun die Funktion der Unterdrückung übernommen, die vorher die Natur ausübte. (S. 167)
Unterschied zwischen dem Sklaven und dem Bürger (Montesquieu, Rousseau): der Sklave ist seinem Herrn und der Bürger den Gesetzen unterworfen. Wobei übrigens der Herr sehr milde und die Gesetze sehr hart sein können: das ändert nichts. Alles liegt in dem Abstand zwischen der Willkür und der Regel. (S. 168)
Die soziale Tugend ist der Gehorsam gegen das Große Tier, das dem Guten gleichgesetzt wird. Ein Pharisäer ist ein Mensch, der tugendhaft ist aus Gehorsam gegen das Große Tier. (S. 177)
Ist es nicht das größte Unglück, wenn man gegen Gott kämpft, nicht besiegt zu werden? (S. 181)
Aller Ehrgeiz ist Maßlosigkeit. (S. 184)
Der atheistische Materialismus ist mit Notwendigkeit revolutionär, denn um nach einem absoluten Gut auf Erden zu trachten, muss man dieses in die Zukunft verlegen. Man bedarf dann alsbald, damit es diesem Streben an nichts fehle, eines Mittlers zwischen der zukünftigen Vollkommenheit und der Gegenwart. Dieser Mittler ist der Führer: Lenin usw. Er ist unfehlbar und vollkommen rein. Durch ihn hindurch wird das Böse etwas Gutes. Es bleibt nur die Wahl zwischen dieser Haltung oder der Liebe zu Gott, oder man lässt sich von den kleinen Übeln und kleinen Gütern des Alltagslebens hin und her treiben. (S. 187)
Der große Irrtum der Marxisten und des ganzen neunzehnten Jahrhunderts war der Glaube, durch ein bloßes Geradeausschreiten sei man bereits in die Lüfte aufgestiegen. (S. 187)
Der Sozialismus verlegt das Gute in die Besiegten, die Rassenlehrer in den Sieger. Jedoch bedient sich der revolutionäre Flügel des Sozialismus jener, die, obwohl niedrig geboren, ihrer Natur und Berufung nach zu den Siegern gehören, und so läuft es auch hier am Ende auf die gleiche Ethik hinaus. (S. 191)
Du hättest zu keiner besseren Zeit geboren werden können als dieser, in der man alles verloren hat. (S. 187)
Die Monotonie ist das Schönste oder das Entsetzlichste. Das Schönste, wenn sie ein Abglanz der Ewigkeit ist. Das Entsetzlichste, wenn sie eine unaufhörliche Dauer ohne Wechsel anzeigt. Überwundene Zeit oder unfruchtbar gemachte Zeit. Der Kreis ist das Sinnbild der schönen Monotonie, die Pendelschwingung das der grässlichen Monotonie. (S. 193)
man arbeitet, um zu essen, man isst, um zu arbeiten … Betrachtet man eines von beiden als einen Zweck oder eines vom andern getrennt, dann ist man verloren. Der Kreislauf enthält die Wahrheit. (S. 193)
Nicht die Religion, die Revolution ist das Opium für das Volk.(S. 195)