Nietzsche – Götzen-Dämmerung

Meine Unterstreichungen:

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S. 3

“Deutscher Geist”: seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.

S. 4

Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.

S. 5

Was sich erst beweisen lassen muss, ist wenig werth.

S. 7

Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit - und durchaus kein Rückweg zur Tugend, zur „Gesundheit”, zum Glück… Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt. –

S. 17

Das Alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein .. Damit haben sie ihren stupenden Begriff „Gott” … Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum …

S. 21

Am Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt, – dass Wille ein Vermögen ist… Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist…

S. 23

Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…

S. 23

Von einer „andren” Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines „anderen”, eines „besseren” Lebens.

S. 24

die Schwäche des Willens, bestimmter geredet, die Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagiren, ist selbst bloss eine andre Form der Degenerescenz.

S. 30

Man überschaue die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler hinzugenommen: das Giftigste gegen die Sinne ist nicht von den Impotenten gesagt, auch nicht von den Asketen, sondern von den unmöglichen Asketen, von Solchen, die es nöthig gehabt hätten, Asketen zu sein …

S. 30

Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat…

S. 33

Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen „so und so sollte der Mensch sein!” Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichthum der Typen, die Uppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels: und irgend ein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: „nein! der Mensch sollte anders sein”?

S. 35

Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen „ändere dich” heisst verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch…

S. 35

Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen. Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein.

S. 35f

seine Tugend ist die Folge seines Glücks…

S. 39

Dieser junge Mann wird frühzeitig blass und welk. Seine Freunde sagen: daran ist die und die Krankheit schuld. Ich sage: dass er krank wurde, dass er der Krankheit nicht widerstand, war bereits die Folge eines verarmten Lebens, einer hereditären Erschöpfung.

S. 39

Jeder Fehler in jedem Sinne ist die Folge von Instikt-Entartung, von Disgregation des Willens.

S. 39f

Irrthum der imaginären Ursachen.– Vom Traume auszugehn: einer bestimmten Empfindung, zum Beispiel in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Hauptperson ist). Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz: sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, – nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn”. Der Kanonenschuss tritt in einer causalen Weise auf. in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt…

S. 42f

wollen einen Grund haben, uns so und so zubefinden, – uns schlecht zu befinden oder gut zu befinden. Es genügt uns niemals, einfach bloss die Thatsache, dass wir uns so und so befinden, festzustellen: wir lassen diese Thatsache erst zu, – werden ihrer bewusst wenn wir ihr eine Art Motivirung gegeben haben.

S. 43

Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem in Gefühl von Macht.

S. 44

man vertraut Gott, weil das Gefühl der Fülle und Stärke Einem Ruhe gibt.

S. 47

Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff „freier Wille”: wir wissen nur zu gut, was er ist – das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne „verantwortlich” zu machen, das heisst sie von sich abhängig zu machen… Ich gebe hier nur die Psychologie alles Verantwortlichmachens. – Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens zusein, der da sucht.

S. 47

Die Menschen wurden frei gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können.

S. 48

Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird.

S. 49

Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als „Geist” eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung, – damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt…

S. 49f

alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund auf unmoralisch.

S. 57

Es zahlt sich teuer, zur Macht zu kommen: die Macht verdummt… (S. 59)

Erzieher thun noth, die selbst erzogen sind, überlegene, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süss gewordene Culturen, – nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als „höhere Ammen” entgegenbringt.

S. 64

Was die „höheren Schulen” Deutschlands thatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen. „Höhere Erziehung” und Unzahl – das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme: man muss privilegirt sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben. Alle grossen, alle schönen Dinge-können nie Gemeingut sein: pulchrum est paucorum hominum.

S. 64

Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob Etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht “fertig” ist, noch nicht Antwort weiss auf die „Hauptfrage”: welchen Beruf? - Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht.„Berufe” genau deshalb, weil sie sich berufen weiss.

S. 65

Aus einer Doctor-Promotion. – „Was ist die Aufgabe alles höheren Schulwesens?” – Aus dem Menschen eine Maschine zu machen. – „Was ist das Mittel dazu?” – Er muss lernen, sich langweilen. – „Wie erreicht man das?” – Durch den Begriff der Pflicht. – „Wer ist sein Vorbild dafür?” – Der Philolog: der lehrt ochsen. – „Wer ist der vollkommene Mensch?” – Der Staats-Beamte. – „Welche Philosophie giebt die höchste Formel für den Staats-Beamten?” – Die Kant’s: der Staats-Beamte als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staats-Beamten als Erscheinung.

S. 95

Christ und Anarchist. – Wenn der Anarchist, als Mundstück niedergehender Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen Entrüstung „Recht”, „Gerechtigkeit”, „gleiche Rechte” verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiss, warum er eigentlich leidet, – woran er arm ist, an Leben… Ein UrsachenTrieb ist in ihm mächtig: Jemand muss schuld daran sein, dass er sich schlecht befindet… Auch thut ihm die „schöne Entrüstung” selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen, – es giebt einen kleinen Rausch von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen, kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält. eine feinere Dosis Rache ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter Umständen selbst seine Schlechtigkeit Denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein unerlaubtes Vorrecht vor. „Bin ich eine canaille, so solltest du es auch sein”: auf diese Logik hin macht man Revolution.

S. 99

„Nicht seinen Nutzen suchen” – das ist bloss das moralische Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Thatsächlichkeit: „ich weiss meinen Nutzen nicht mehr zu finden – Disgregation der Instinkte! – Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird. – Statt naiv zu sagen, „ich bin nichts mehr werth”, sagt die Moral-Lüge im Munde des décadent: „Nichts ist etwas werth, - das Leben ist nichts werth”… Ein solches Urtheil bleibt zuletzt eine grosse Gefahr, es wirkt ansteckend.

S. 101

Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen…

S. 105

Erster Grundsatz: man muss es nöthig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie.

S. 111

will man Sklaven, so ist mein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht.

S. 114

Die Lehre von der Gleichheit!… Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist .. „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches” – das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen.

S. 124