Alice Miller – Das Drama des begabten Kindes

Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Alles, was sie anpacken, machen sie gut bis hervorragend, sie werden bewundert und beneidet, sie ernten Erfolg, wo es ihnen immer wichtig ist, aber alles das nützt nichts. Dahinter lauert die Depression, das Gefühl der Leere, der Selbstentfremdung, der Sinnlosigkeit ihres Daseins – sobald die Droge der Grandiosität ausfällt, sobald sie nicht »on top« sind, nicht mit Sicherheit der Superstar, oder wenn sie plötzlich das Gefühl bekommen, vor irgendeinem Idealbild ihrer selbst versagt zu haben. Dann werden sie gelegentlich von Ängsten oder schweren Schuld- und Schamgefühlen geplagt. Was sind die Gründe einer so tiefen narzißtischen Störung bei diesen begabten Menschen?

S. 13

[…] so lag es, meinen sie, an ihnen, nämlich daran, daß sie sich nicht richtig ausdrücken konnten. Sie bringen ihre ersten Erinnerungen ohne jegliches Mitgefühl für das Kind, das sie einmal waren, und dies fällt um so mehr auf, als diese Patienten nicht nur eine ausgesprochene Fähigkeit zur Introspektion haben, sondern sich auch leicht in andere Menschen einfühlen können. Ihre Beziehung zur Gefühlswelt ihrer Kindheit ist aber durch mangelnden Respekt, Kontrollzwang, Manipulation und Leistungsdruck charakterisiert

S. 14

Es gehört zu den Wendepunkten der Analyse, wenn narzißtisch gestörte Patienten zu der emotionalen Einsicht kommen, daß all die Liebe, die sie sich mit so viel Anstrengungen und Selbstaufgabe erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren; daß die Bewunderung für ihre Schönheit und Leistungen der Schönheit und den Leistungen galt und nicht eigentlich dem Kind, wie es war.

S. 23

Das Kind weiß jedoch nicht, was es versteckt. Ein Patient formulierte es so: »Ich lebte in einem Glashaus, in das meine Mutter jederzeit hineinschauen konnte. In einem Glashaus kann man nichts verstecken, ohne sich zu verraten, außer unter dem Boden. Dann sieht man es aber selbst auch nicht.«

S. 29

Das narzißtisch besetzte Kind hat die Chancen, seine intellektuellen Funktionen ungestört zu entwickeln, nicht aber seine Gefühlswelt, und das hat schwerwiegende Konsequenzen für sein Wohlbefinden. Der Intellekt übernimmt zwar eine prothetische Funktion von unschätzbarem Wert, indem er die Abwehr stärkt. Doch dahinter kann sich die narzißtische Störung noch vertiefen.

S. 49

Eigentlich ist die Grandiosität die Abwehr gegen die Depression und die Depression die Abwehr des tiefen Schmerzes über den Selbstverlust.

S. 49

Der »grandiose« Mensch wird überall bewundert, und er braucht diese Bewunderung, kann gar nicht ohne sie leben. Er muß alles, was er unternimmt, glänzend machen, und er kann es auch (etwas anderes unternimmt er eben nicht). Auch er bewundert sich – seiner Eigenschaften wegen: seiner Schönheit, Klugheit, Begabung, seiner Erfolge und Leistungen wegen. Wehe aber, wenn etwas davon aussetzt, die Katastrophe einer schweren Depression steht dann vor der Türe.

S. 49

Man ist aber frei von Depressionen, wo das Selbstwertgefühl in der Echtheit der eigenen Gefühle wurzelt und nicht im Besitz bestimmter Qualitäten.

S. 50

Der »phallische Mann« steht unter dem Zwang, ein Prachtskerl zu sein, will er sich überhaupt als Mann fühlen. Sobald er aber etwas Bestimmtes sein muß und nicht sein kann, was er ist, verliert er begreiflicherweise sein Selbstbewußtsein. Um so mehr versucht er dann, sein schwaches Selbstwertgefühl »aufzupumpen«, was zu weiterer narzißtischer Schwächung führt und so ad infinitum. Fellinis »Casanova« hat diesen Menschen und seine Not eindrücklich gezeigt.

S. 52

Doch lassen sich die verdrängten oder abgespaltenen Größenphantasien des Depressiven unschwer aufspüren, z. B. in seinem moralischen Masochismus. Denn nur für ihn gilt sein besonderer strenger Maßstab. Die gleichen Gedanken oder Handlungen, die er bei sich, gemessen an seinem hohen Ichideal, als »gemein« oder böse bezeichnet, kann er ohne weiteres bei einem anderen Menschen tolerieren. Die anderen Menschen dürfen »gewöhnlich« sein, nur er selber eben niemals.

S. 55

Wenn er in seiner Analyse auf diesen Zusammenhang zu achten anfängt, kann er von seiner Depression profitieren; er kann von ihr Wahrheiten über sich selbst erfahren.

S. 64

»Es waren nicht die schönen und angenehmen Gefühle, die mir neue Einsichten vermittelten, sondern die, gegen die ich mich am meisten gewehrt habe: Gefühle, in denen ich mich schäbig, klein, böse, ohnmächtig, beschämt, anspruchsvoll, nachtragend oder verwirrt erlebte. Und vor allem traurig und einsam. Aber gerade nach diesen, so lange gemiedenen Erlebnissen hatte ich die Gewißheit, etwas in meinem Leben von innen heraus verstanden zu haben, etwas, das ich in keinem Buch hätte finden können.«

S. 65

Und je unrealistischer diese Gefühle sind, je weniger sie zur jetzigen Realität »passen«, um so deutlicher zeigen sie an, daß sie auf unbekannte Situationen reagieren, die es noch zu entdecken gilt. Wird aber das betreffende Gefühl nicht erlebt, sondern »ausgeredet«, dann bleibt auch die Entdeckung aus, und die Depression kann nun ihre Triumphe feiern.

S. 68

Heute aber ist eine derartige Abkapselung einer Gruppe von anderen, mit anderen Wertmaßstäben, kaum mehr möglich. Das erfordert einen Halt des Einzelnen in sich selber, wenn er nicht zum Spielball verschiedener Interessen und Ideologien werden will.

S. 70

Sowohl der Grandiose wie der Depressive verleugnen diese Realität vollständig, indem sie so leben, als ob die Verfügbarkeit des Selbstobjektes noch zu retten wäre: der Grandiose in der Illusion des Gelingens, der Depressive jederzeit in der Angst, das Selbstobjekt zu verlieren. Aber beide können die Wahrheit nicht zulassen, daß dieser Verlust bzw. das Nichtvorhandensein in der Vergangenheit bereits geschehen ist und daß keine Anstrengung der Welt diese Tatsache je wird ändern können.

S. 74

Der erwachsene Mann idealisiert dann seine eigene Mutter, weil jeder Mensch an der Vorstellung hängt, wirklich geliebt worden zu sein, und verachtet die anderen Frauen, an denen er an Stelle der Mutter Rache nehmen kann.

S. 79

Die Verachtung ist die Waffe des Schwachen und der Schutz gegen bestimmte eigene unerwünschte Gefühle. Und am Ursprung jeder Verachtung, jeder Diskriminierung ist die mehr oder weniger bewußte, unkontrollierte, verborgene und von der Gesellschaft (außer bei Totschlag oder bei schweren körperlichen Mißhandlungen) tolerierte Machtausübung des Erwachsenen über das Kind.

S. 80

Die Frage nach dem Umgang mit dem Ärger und anderen Gefühlen der Gegenübertragung stellt sich nämlich nicht mehr, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß alle Gefühle, die der Patient während seiner Analyse im Analytiker weckt, zu dem unbewußten Versuch gehören, ihm seine Geschichte zu erzählen und sie gleichzeitig vor ihm zu verbergen, d. h. sich vor neuen, unbewußt erwarteten Manipulationen zu schützen.

S. 89

Gefühle der Gegenübertragung sind wie ein kurzes Aufleuchten, wie Signale, deutlich mit der Person des Analysanden verbunden. Werden sie sehr intensiv, quälend und dauerhaft, so haben sie mit einem selbst zu tun.

S. 90

Er braucht einen Menschen, der in keiner Weise auf ein bestimmtes Sosein von ihm angewiesen ist, der ihn so sein lassen kann, wie er jeweils ist, und der zugleich bereit ist, alle ihm zugeschobenen Rollen so lange, wie es für den analytischen Prozeß nötig sein mag, auf sich »sitzen zu lassen«.

S. 90

Es ist über die negative Seite des Wiederholungszwanges viel geschrieben worden; seine unheimliche Tendenz, immer wieder das nicht erinnerte Trauma zu inszenieren, hat zuweilen etwas Grausames, Selbstzerstörerisches und kann begreiflicherweise die Assoziation vom Todestrieb nahelegen. Aber der Wiederholungszwang hat auch eine positive Seite. Er ist nämlich auch die Sprache des stummgebliebenen Kindes, die einzige Möglichkeit seiner Artikulierung.

S. 91

Andererseits dient die Sprache sehr oft nicht dem Ausdruck von wahren Gefühlen und Gedanken, sondern ihrem Verbergen, Verschleiern, Verleugnen, also dem Ausdruck des falschen Selbst.

S. 94

Mit einer schlafwandlerischen Sicherheit wird sich der Analysand Menschen aussuchen, die genauso wie seine Eltern (wenn auch aus anderen Gründen) nicht die Möglichkeit haben, ihn zu verstehen. Und gerade bei diesen wird er sich – im Wiederholungszwang – anstrengen, sich verständlich zu machen, das Unmögliche also doch möglich zu machen.

S. 94

Die Faszination solcher quälender Beziehungen gehört zum Zwang, ganz frühe Enttäuschungen mit den Eltern immer neu zu wiederholen.

S. 96

Perversion und die Zwänge inszenieren immer wieder das gleiche Drama: nur unter der Voraussetzung einer entsetzten Mutter ist die Triebbefriedigung möglich, d. h. nur im Klima der Selbstverachtung ist ein Orgasmus (z. B. mit einem Fetisch) zu erreichen, nur in (scheinbar) absurden, befremdenden (beängstigenden) Zwangsvorstellungen darf sich eine Kritik durchsetzen.

S. 99

Als ob die Krankheit nicht zuweilen gerade der einzig mögliche Ausdruck des wahren Selbst wäre. Die Menschen, die zu uns kommen, waren ja ihr ganzes Leben lang bestrebt, so erwachsen und so gesund (»normal»), wie nur möglich zu sein. Sie erleben es als eine große innere Befreiung, wenn sie diese gesellschaftlich bedingten Zwänge von Kinderfeindlichkeit und »Normalität«-Verehrung in sich entdecken und aufgeben können.

S. 101

Du spürst den so verführerischen wie absurden Männertraum, von Frauen gehätschelt zu werden wie ein Säugling und sie dennoch zu beherrschen wie ein Pascha.« Dieser »Männertraum« ist nicht nur nicht absurd, sondern entstammt dem echtesten und legitimsten Bedürfnis des Säuglings.

S. 102

Der Autor des Berichtes fragte die Stammgäste, was ihnen die größte Lust in diesen Lokalen [Bordellen] verschaffe, und faßt die Antworten in folgenden Worten zusammen: »Die Verfügbarkeit, die Preisgabe der Mädchen: daß es bei ihnen keiner Liebesbeteuerung bedarf wie bei einer Freundin. Und daß keine Verpflichtungen, Seelendramen und Gewissensbisse zurückbleiben, wenn die Lust geschwunden ist: ›Du zahlst und bist frei.‹ Sogar (und gerade) das Erniedrigende, das eine solche Begegnung auch (und gerade) für den Freier hat, kann die Erregung steigern – aber davon redet man weniger gern.« (Hervorhebungen von mir – A. M.) Die Erniedrigung, Selbstverachtung und Selbstentfremdung spiegeln intrapsychisch die Verachtung der primären Objekte und schaffen im Wiederholungszwang die gleichen tragischen Lustbedingungen wie einst.

S. 102

Das, was wir selbst durchschauen, macht uns nicht krank, es kann in uns Empörung, Zorn, Trauer oder Ohnmachtsgefühle wecken. Was uns krank macht, ist das Undurchschaubare, die Zwänge der Gesellschaft, die wir durch die Mutteraugen in uns aufgenommen haben und die wir durch keine Lektüre oder Bildung loswerden können.

S. 113

Der Patient muß seine Eltern der ersten Jahre bei uns in der Übertragung und in sich finden können, um die unbewußte Manipulation und die ungewollte Verachtung der Eltern bewußt zu erleben und davon freizuwerden.

S. 113

Die unbewußten Inhalte bleiben unverändert und zeitlos, wie Freud sagte.

S. 115

Die Verachtung des narzißtisch gestörten Patienten, auf die Kernberg mit großem Nachdruck hinweist, mag in der Lebensgeschichte verschiedene Vorläufer haben, so z. B. die »dummen kleinen Geschwister«, oder die verständnislosen ungebildeten Eltern, aber ihre gemeinsame Funktion ist die Abwehr der unerwünschten Gefühle. Die Verachtung für die kleinen Geschwister verbirgt oft den Neid auf sie, wie die Verachtung für die Eltern manchmal hilft, den Schmerz, daß man sie nicht idealisieren konnte, von sich fernzuhalten.

S. 115

Solange man verachtet und die Leistung überbewertet (»er kann nicht, was ich kann«), muß man nicht die Trauer erleben, daß man nicht ohne Leistung geliebt worden ist. Aber durch die Vermeidung dieser Trauer bleibt man in der Tiefe selber der Verachtete. Denn alles, was in mir nicht großartig, gut und gescheit ist, muß ich verachten. Somit perpetuiere ich intrapsychisch die Einsamkeit der Kindheit: ich verachte die Ohnmacht, die Schwäche, die Unsicherheit, kurzum das hilflose Kind in mir und im Andern.

S. 116

Eine politische Tätigkeit kann aus diesem unbewußten Zorn des mißbrauchten, gefangenen, ausgebeuteten, eingeengten, dressierten Kindes gespeist werden. Im Kampf gegen Institutionen kann dieser Zorn zum Teil abgeführt werden, ohne daß die Idealisierung der eigenen konkreten Mutter aus der frühen Kindheit aufgegeben werden muß. Die alte Hörigkeit wird dann auf neue Objekte verschoben

S. 113