Julien Benda – Der Verrat der Intellektuellen

Meine Unterstreichungen:

(Amazon-Link)

Einleitung zur Neuausgabe 1946

(Erstauflage: 1927)

Ihre Vorstellungen ließen sich auf die Formel bringen: “Das Volk fürchtet Gott nicht mehr, also soll es den Krieg fürchten. Wenn es nichts mehr fürchtet, kann man es nicht mehr halten, und das wäre das Ende der Ordnung.”

S. 14

Napoleon sagte: »Das Elend ist die Schule des guten Soldaten.« Gewisse soziale Parteien würden heute gern sagen, es sei die Schule des guten Staatsbürgers.

S. 15

Für die hellenischen Philosophen bestand die höchste Aufgabe der Gottheit und ihre Ehre nicht darin, das Universum erschaffen zu haben, sondern Ordnung hineingebracht zu haben, das heißt Verständlichkeit.

S. 18

Doch behalten wir eines im Auge: Wenn sich der Demokrat darauf versteift, beweisen zu wollen, daß seine Grundsätze den Erfahrungen von Natur und Geschichte entsprechen, so weil er noch immer Respekt vor ihnen hat und dem Wertsystem, das er bekämpfen will, verhaftet bleibt.

S. 22

Es scheint, als hätten sie noch recht viel zu tun, um zu begreifen, daß ein System, dessen Ideale Gerechtigkeit und Vernunft sind, allein schon dadurch genügend Größe besitz, Ohne daß auch noch Schönheit hinzukommen müßte.

S. 25

»Wir ergreifen das Kind schon in der Wiege«, erklärte einer seiner Anführer - und fügte, ganz Mann der Ordnung, hinzu: »Und wir lassen den Menschen erst im Sarg wieder los.«

S. 28

Als ob die Gerechtigkeit nicht verlangte, daß die Polizei alle Bürger des Staates schützt, auch diejenigen, die persönlich nicht allzuviel taugen.

S. 31

Diese Auffassung der Rolle des Clerc ist von einem hohen kirchlichen Würdenträger, dem Erzbischof von Canterbury vortrefflich ausgedrückt worden: Als man ihm während des Äthiopienkrieges vorwarf, er habe kraft seines Amtes Sanktionen gefordert, die den Frieden gefährden, erwiderte er: „Nicht Frieden: Gerechtigkeit ist mein Ideal.« Womit er nur das Wort seines göttlichen Herrn aufgriff: »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert« (den Krieg gegen das Böse).

S. 32

Ich teile keine der beiden Auslegungen des NT.

Denn Organisation beruht in der Tat auf Unterdrückung der individuellen Freiheit, wie ihr »Erfinder« deutlich in seiner (mir unabstreitbar erscheinenden) Feststellung erkannte, daß Freiheit einen rein negativen Wert darstellt, auf dem man nichts aufbauen kann; oder wie einer seiner großen Adepten mit einer Freimütigkeit, die man nicht immer bei seinen Gesinnungsgenossen findet, erklärte: Das Dogma der individuellen Freiheit ist keinen Pfifferling mehr wert, sobald wir Nationalsozialisten die Macht im Staat übernehmen.

S. 33

Insofern ist sie gewiß im Bereich der Praxis – der Revolution – von höchstem Wert und folglich ganz legitim bei denen, die entschlossen sind, den weltlichen Sieg eines politischen, genauer: polit-ökonomischen Systems herbeizuführen. Doch sie ist offener Verrat bei denen, deren Aufgabe darin besteht, das Denken gerade als aller praktischen Betrachtung fremd zu ehren.

S. 37

Spinoza: »Der Kreis ist eine Sache; die Idee des Kreises ist eine andere, die weder Mittelpunkt noch Peripherie besitzt.«

S. 36f

Aber halten wir fest, welch unglaubliche Verwirrung zwischen Idee und Sache bei diesen angeblichen Denkern herrscht: eine Konfusion, die, wenn sie unfreiwillig ist, von enormer geistiger Dürftigkeit zeugt, und wenn sie gewollt ist (was ich zu glauben geneigt bin), eine bemerkenswerte Unredlichkeit bekundet.

S. 37

Die Menschen des 15. Jahrhunderts, die den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus doch viel unmittelbarer als Marx erlebten, haben nichts davon begriffen, eben weil sie ihn nur zu erleben vermochten.

S. 38

»Ja und Ja ist die Formel der Statik, Ja und Nein ist die der Dynamik; Statik jedoch ist bloßer Schein«, so antworten wir: Genau dieser »Schein« ist Gegenstand der Wissenschaft, während das »Wirkliche« Gegenstand mystischer Hingabe ist – und die Predigt solch einer Hingabe nicht gerade das, was man von einem Wissenschaftler erwartet.

S. 41

Im übrigen rühren wir hier an eine Erscheinung, die bei Philosophen und selbst bei Wissenschaftlern zur Zeit recht verbreitet ist: Sie berufen sich auf Behauptungen von gefeierten Literaten, die – wie es das gut Recht solcher Leute ist – eben nur brillant und leichthin formuliert sind, von denen man sich aber fragt, was sie in Spekulationen ernsthafter Art zu suchen haben.

S. 46

»Die Erfahrung«, schreibt z.B. Meyerson, »nützt uns nur, wenn wir vernünftig denken« und bemerkt weiter, ebenso zutreffend: »Aus der Erfahrung kann man nicht das geringste lernen, ohne zuerst – schon von Natur aus – darauf eingerichtet zu sein, Subjekt und Attribut, Ursache und Wirkung miteinander zu verbinden.« Glaubte nun die Erfahrung, sie könne das Scheitern der Vernunft, wie wir sie praktizieren, beweisen, so müßte sie dazu sich ihrer bedienen - und hätte im selben Augenblick den Beweis zu Fall gebracht.

S. 51

Diesen Materialismus gutzuheißen bedeutet ein freiwilliges Verstummen des Widerspruchs gegen die menschliche Sinnenverhaftung, dessen Verkörperung die Männer »des Geistes« zu sein hätten und der für die Zivilisation grundnotwendig ist.

S. 52

Ein Grundzug des menschlichen Bewußtseins bestand von Anfang an in seiner Auflehnung gegen Umstände, die es zu erdrücken drohten.

S. 53

Lenins große Stärke lag, wie uns einer seiner Geschichtsschreiber, Marc Vichniac, versichert, unter anderem in seiner Fähigkeit, sich niemals als Gefangener dessen zu fühlen, was er tags zuvor als Wahrheit gepredigt hatte.

S. 54

Mussolinis berühmter Ausspruch: »Hüten wir uns vor der Todesfalle der Konsequenz!« könnte als Motto all derer gelten, die inmitten unberechenbarer Strömungen ihre Pläne in die Tat umsetzen wollen.

S. 55

Wenn aber Männer des Geistes sich einer Philosophie verschreiben, die sich damit brüstet, einzig die Opportunität zu kennen und nur umstandsbedingte Wahrheiten gelten zu lassen, dann frage ich, ob sie damit nicht eigentlich die Charta ihres Standes zerreißen und ihre Annullierung verkünden.

S. 55

Daß aber Intellektuelle einer Doktrin huldigen, die nicht nur den höchsten Errungenschaften des menschlichen Geistes einen rein mechanischen Ursprung zuschreiben will, sondern noch dazu eine eklatante Unwahrheit in die Welt setzt – das ist ein treffliches Beispiel für ihre heutige Selbstzerfleischung.

S. 57

Das einzige politische System, dem der Intellektuelle Gefolgschaft leisten kann, ohne sich selbst untreu zu werden, ist die Demokratie, denn mit ihren obersten Werten der Freiheit des Individuums, der Gerechtigkeit und der Wahrheit ist sie nicht praktisch.

S. 58

Abel Bonnard, Erziehungsminister des Vichy-Regimes, wettert in einem Erlaß an seine Schäfchen: »Unterricht darf nicht neutral sein: das Leben ist auch nicht neutral.« Die Antwort des wahren Clerc: Das Leben war nicht neutral, wohl aber die Wahrheit, zumindest politisch gesehen. Und auf einen Schlag hat er die Realisten er Couleur gegen sich vereint.

S. 61

Liebe, in höchstem Maße ein Gebot des Herzens und nicht der Vernunft, ist das Gegenteil eines intellektuellen Wertes.

S. 62

Was nun den Weltfrieden betrifft, sollen sie nicht die Leier der brüderlichen Umarmung wiederholen, sondern wünschen, daß die Gerechten die Welt regieren und die Ungerechten in Schach halten. Auch in dieser Sache ist es ihre Aufgabe, zu urteilen – anstatt sich in Leidenschaften zu ergehen.

S. 63

Der Impresario dieser Lehre erhebt, wie ich mir sagen lasse, Einspruch: Er sei ja gar kein Intellektueller. Da kann er recht haben. Aber sein Publikum hält ihn dafür, will sagen: für einen Denker und nicht für einen politischen Quacksalber; und dieser Glaube verleiht seinem Wort das Gewicht, das es ihm beimißt. Man sähe es gerne, wenn er dieses Mißverständnis bereinigte.

S. 67f

Anhang Die Werte des Clercs.

Die Werte des Clerc, deren wichtigste Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft sind, zeichnen sich durch drei Merkmale aus:
Sie sind statisch. Sie sind interessenfrei.
Sie sind rational.

S. 71

Doch scheint mir in diesem Zusammenhang Renouvier mit der Bemerkung, es gebe zwar Tatsachen des Fortschritts, aber kein Gesetz des Fortschritts, den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben.

S. 73

Die Gerechtigkeit, insoweit sie die Unverletzlichkeit der Person einzig auf Grund deren menschlicher Natur fordert, darf den Menschen nur im Abstrakten betrachten. Im konkreten ist man, wie Renan feststellt, ganz offensichtlich mehr oder weniger Mensch, und demzufolge mehr oder weniger berechtigt, die »Menschenrechte« in Anspruch zu nehmen. Jedem Menschen das, »was ihm zusteht« (cuique suum), unter Berücksichtigung der naturgegebenen Ungleichheiten zuzuteilen, hieße mit den Menschen auf eine Weise verfahren, die einem groben Verstoß gegen unsere Vorstellung von Gerechtigkeit gleichkäme. Wie man es auch wendet: Die Idee der Gerechtigkeit impliziert den Begriff einer Abstraktion.

S. 74

»Wer sich erlaubt – aus welchen Gründen auch immer: patriotischen, politischen, religiösen und sogar moralischen – die Wahrheit im geringsten zu verfälschen, dessen Name muß aus den Listen der Wissenschaft getilgt werden.« (Gaston Paris, Leçon d’ouverture au Collége de France, Dezember 1870)

S. 76

Da hat man ja viel zu tun.

Die Moderne Perfektionierung der politischen Leidenschaften

Waren etwa von den Bürgerkriegen, die Frankreich im 16. und gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufwühlten, erstaunlich wenige Menschen wirklich im Herzen betroffen, und war die Geschichte noch bis ins 19. Jahrhundert hinein von langen europäischen Kriegen erfüllt, die dem weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen, abgesehen von den materiellen Schäden, die sie anrichteten, vollkommen gleichgültig waren, so gibt es heute wohl kaum mehr eine Person in Europa, die nicht von einer Rassen-, Klassen- oder Nationalleidenschaft – uns meistens sogar von allen dreien – berührt wäre oder berührt zu sein meinte.

S. 83

Anscheinend haben sich die politischen Leidenschaften gerade als solche zur Praxis der Disziplin erhoben: Selbst im Fühlen scheinen sie einem Aufruf zu folgen. Und man sieht nur zu deutlich, welchen Kraftzuwachs sie daraus gewinnen.

S. 85

Beim modernen Citoyen, darin wird mir jeder zustimmen, formt sich die Nationalleidenschaft weit weniger aus der Begeisterung für die Interessen seiner Nation – Interessen, die er nur schwer ausmachen kann, deren Wahrnehmung Informationen verlangt, die er nicht hat und auch nicht zu erlangen versucht (man kennt seine Gleichgültigkeit für Fragen der Außenpolitik)– als vielmehr aus seinem Stolz auf diese Nation und aus seinem Wunsch, sich in ihr aufgehoben zu fühlen und auf das, was man ihr seiner Meinung nach an Ehrungen und Beleidigungen angetan oder erwiesen hat, zu reagieren.

S. 91

Es liegt auf der Hand, daß bei den Völkern – und mit der Bereitschaft dieser neuen »Souveräne«, schon beim bloßen Verdacht einer Beleidigung loszuschlagen – der Frieden ungleich gefährdeter ist als zu Zeiten, da er nur von Königen und Ministern abhing, von eher praktisch denkenden Männern, Meistern der Selbstbeherrschung, die durchaus bereit waren, eine Beleidigung hinzunehmen, wenn sie sich nicht als die Stärkeren fühlten.

S. 93

Daß der politische Krieg den Krieg der Kulturen impliziert, ist recht eigentlich erst eine Erfindung unserer Zeit und sichert ihr einen herausragenden Platz in der Moralgeschichte der Menschheit.

S. 94

Unsere Zeit wird man einst das Jahrhundert der intellektuellen Organisation des politisches Hasses nennen.

S. 98

Heute indessen will jede Passion diese Lehre nicht nur auf politischer Ebene verankert wissen, sondern auch auf moralischer, intellektueller und ästhetischer: Antisemitismus, Pangermanismus, französischer Monarchismus und Sozialismus sind nicht nur politische Programmatiken: Sie verfechten jeweils spezifische Arten von Moralität, Intelligenz, Sensibilität, Literatur, Philosophie und Kunstverständnis.

S. 98

Alle politischen Ideologien beanspruchen heute, auf Wissenschaft zu beruhen, das Resultat »strikter Tatsachenbeobachtung« zu sein.

S. 99

Das Streben nach realer Existenz bedeutet: 1. weltliches Gut besitzen, und 2. sich als etwas Besonderes zu fühlen.

S. 102

Schließlich wird auch das höchste Attribut, das wir in den politischen Leidenschaften erkannt haben, die Vergöttlichung ihres Realismus, heute so deutlich ausgesprochen wie nie zuvor: Staat, Vaterland und Klasse werden frei heraus mit Gott identifiziert, ja für viele (und manche rühmen sich dessen noch) sind sie allein Gott.

S. 105

Die Intellektuellen und ihr Verrat.

Der Laie, dessen Interessen ein Mann des Geistes (wie z.B. Sokrates oder Jesus) im Wege steht, stellt ihn sofort an den Pranger. Schon im vornherein läßt sich sagen, daß ein Clerc, der von der Weltlichkeit gepriesen wird, ein Standesverräter sein muß.

S. 113

Der nationalistische Intellektuelle ist im wesentlichen eine deutsche Erfindung.

S. 117

Fichte und Hegel setzen ja bekanntlich den Triumpf der germanischen Welt als naturnotwendiges Endziel des werdenden Seins; die Geschichte hat bewiesen, welche Folgen das Postulat dieser Clercs bei ihrem weltlichen Publikum hervorgerufen hat.

S. 131

Die modernen Egalitarier wollen nicht mehr verstehen, daß Gleichheit nur im Abstrakten möglich ist und daß die Ungleichheit Wesen des Konkreten ausmacht. Damit haben sie, neben beachtlichem politischen Ungeschick, auch die ganze Plumpheit ihres Geistes demonstriert.

S. 133f


>Wir brauchen gar nicht bis auf Augustinus zurückzugehen, der die Auflösung aller Patriotismen durch Eintritt in den Gottesstaat predigte, oder auf Bossuet, der Jesus entrüstet feststellen läßt, »daß wir die Gemeinsamkeit unser aller Natur vergessen zu haben scheinen, bloß weil ein paar Flüsse oder Berge zwischen uns liegen«, Noch im Jahre 1849 verkündet eine Versammlung hoher kirchlicher Würdenträger, »die nationale Bewegung« sei »ein Überrest des Heidentums, ebenso wie die Verschiedenheit der Sprachen eine Folge des Sündenfalls«.

S. 136

Für Sokrates - hierin Musterbeispiel des orthodoxen Clerc – stellen Häfen, Arsenale und dicke Mauern nur »Albernheiten« dar; Gerechtigkeit und Besonnenheit sind ihm die ernstzunehmenden Güter. Für seine heutigen Nachfolger ist jedoch die Gerechtigkeit bloß eine Albernheit, ein »Wolkengebilde«; ernst zu nehmen sind nunmehr Rüstkammern und Mauerwerk.

S. 150

Schon allein weil er sich an die Massen wendet, ist der moderne Staatsmann gehalten, als Moralist aufzutreten und seine Handlungen in den Kontext einer Moral, einer Metaphysik, einer Mystik zu setzen.

S. 152

Dabei sagen sie aber nicht: Werdet so, weil die Notwendigkeit es gebietet. Nein, sie sagen (und darin lieg das Novum): Werdet so, weil Moral und Ästhetik danach verlangen – das Streben nach Stärke ist Zeichen einer erhabenen Seele, das Trachten nach Gerechtigkeit hingegen Ausdruck einer niederen.

S. 154

Diese Beflissenheit, mit der so viele moderne »Seelenhirten« die Imperfektibilität der menschlichen Natur behaupten, mutet schon besonders merkwürdig an, wenn man bedenkt, daß eine solche Behauptung auf nichts Geringeres hinausläuft als das Bekenntnis der völligen Funktionslosigkeit ihres Amtes, womit sie beweist, wie vollständig ihnen ein Verständnis von dessen Wesen inzwischen fremd ist.

S. 158

Sie sind sich vielmehr sehr wohl bewußt, daß sie, indem sie das ewige Bestehen der Barbarei behaupten, eben jene Ewigkeit von Barbarei erschaffen werden, die zur Aufrechterhaltung der Institutionen vonnöten ist, die ihnen so lieb und teuer sind.

S.158f

Unser Zeitalter muß erleben, wie Priester des Geistes lehren, die anständige Art zu denken sei das Herdendenken, während unabhängiges Denken verachtenswert sei. Im übrigen steht fest, daß eine Gruppe, die stark sein will, nichts anzufangen weiß mit einem Menschen, der für sich den Anspruch erhebt, eigenständig zu denken.

S. 160

Diese Zwiespältigkeit und die mit ihr verbundene Unterscheidung hat Kardinal Lavigerie sehr klar veranschaulicht, als er auf die Frage: »Was täten Sie, wenn jemand ihnen eine Ohrfeige auf die rechte Wange verpaßte?« zur Antwort gab: »Ich weiß wohl, was ich tun müßte, aber ich weiß nicht, was ich tun würde.« Ich weiß wohl, was ich tun müßte, mithin, was ich lehren muß: wer so spricht, beginge er auch jede nur erdenkliche Gewalttat, der bewahrt die christliche Moral. Taten bedeuten hier nichts, die Beurteilung der Taten alles.

S. 169

Die Wahrheit ist, daß die Clercs ebenso weltlich geworden sind wie die Laien selbst.

S. 170

Seit griechischen Zeiten äußerte sich die vorherrschende Einstellung der Denker zur intellektuellen Tätigkeit in deren Verherrlichung, insofern sie gleich dem ästhetischen Tun ihre Befriedigung in der Ausübung ihrer selbst findet, ganz unabhängig von Vorteilen, die sich eventuell aus ihr ergeben können.

S. 177f

»Wer die Wissenschaft um ihrer Früchte willen liebt, macht sich der schlimmsten Blasphemie gegen diese Gottheit schuldig.«

Renan, S. 178

Man muß den modernen Staat dafür verantwortlich machen, nichts für die Erhaltung einer Klasse von Menschen getan zu haben (aber konnte er es denn?), die frei von Bürgerpflichten wären und deren einzige Aufgabe darin bestünde, den Herd der nicht-praktischen Werte zu hüten. Es erfüllt sich heute die Prophezeiung Rehans vom zwangsläufigen Niedergang einer Gesellschaft, deren Glieder ausnahmslos zu irdischem Frondienst gezwungen sind.

S. 183

Die Ära der großen Liebe zum Geistigen, verkörpert von Thomas von Aquin, Roger Bacon, Galileo Galilei und Erasmus, ist zugleich die Epoche, in der Europa, noch ohne Nationalstaaten, größtenteils ein Bild des Durcheinanders bietet. Es fügt sich, daß die Länder, in denen das rein spekulative Denken sich wohl am längsten halten konnte, gerade Deutschland und Italien sind – mit anderen Worten: die Länder, die zuallerletzt Nationen wurden: und fast auf den Tag genau, da sie Nationen geworden waren, hörten sie denn auch auf, ein solches Denken hervorzubringen.

S. 185

Als Jules Lemaître ausrief, die Schmach von Sedan koste ihn noch den Verstand, erwiderte ihm Renan, daß er den seinigen durchaus behalten habe und daß die Verwundbarkeit eines wahren Geistespriesters ganz woanders liege als in seinen irdischen Bindungen.

S. 184

Hierin manifestiert sich nur ein Aspekt einer umfassenden Neuerung, die für unser Thema von höchstem Interesse ist: das Souveränitätsbewußtsein der Laienschar und ihre Entschlossenheit, den Intellektuellen, der ihr andere als wunschgemäße Worte vorsetzt, schon zur Vernunft zu bringen.

S. 187

Die moderne Menschheit will von den Männern, die sich ihre Lehrmeister nennen, nicht den Weg gewiesen haben: sie will bedient werden.

S. 187

Gesamtüberblick und Prognosen

Die ganze Menschheit ist zur Laienwelt geworden, die Clercs inbegriffen. Ganz Europa ist Luther gefolgt, selbst Erasmus.

S. 198

Mögen diese Maßnahmen auch gegen den Krieg gerichtet sein: sie lassen den Kriegsgeist unberührt – und nichts berechtigt uns zu dem Glauben, ein Volk, das einen Vertrag nur aus pragmatischen Gründen respektiert, werde ihn nicht brechen, sobald ihm der Vertragsbruch profitabler scheint.

S. 200

wer hat sich seit Jesus schon für das Praktische unzuständig erklärt?

S. 204

»Das Vaterland ist eine irdische Angelegenheit. Wer den Engel spielen möchte, wird stets ein schlechter Patriot sein.«

Renan, S. 204

Einer von ihnen bringt das vortrefflich zum Ausdruck, wenn er Jesus an seinen Jünger in tiefgründigen Worte richten läßt: »Mein Sohn, ich darf dir keine zu klare Vorstellung von deinem Wesen geben denn sähest du deutlich, was du bist, so könntest du nicht länger so innig verbunden bleiben mit deinem Leib. Du würdest nicht länger Sorge tragen für die Erhaltung deines Lebens.«

S. 205f

Die Menschen werden ihre Werte nicht schon nach Kriegen revidieren, die bloße fünfzig Monate dauern und pro Nation nur zwei Millionen Tote kosten.

S. 207

Eine solche Menschheit wird Großes erreichen, will sagen: wird auf wahrhaft grandiose – überwältigende – Weise von ihrer Umwelt Besitz ergreifen und ein gar fröhliches Bewußtsein erlangen von ihrer eigenen Macht und Herrlichkeit. Und die Geschichte wird lächeln bei dem Gedanken, daß Sokrates und Jesus für diese Spezies gestorben sind.

S. 215